In seinem Marshall-McLuhan-Vortrag auf dem Transmediale-Festival in Berlin im Januar 2024 stellte Cory Doctorow ein spannendes Konzept vor: die „Enshittification“ (wir verwenden im folgenden den englischen Begriff, der deutsche hört sich nicht besser an). Dieser Begriff beschreibt treffend und provokativ den unvermeidlichen Niedergang aller kommerziellen digitalen Plattformen. Doctorows Analyse zeigt, wie Plattformen wie Facebook, Twitter oder Amazon einem vorhersehbaren Muster folgen – vom benutzerfreundlichen Beginn über zunehmende Ausbeutung bis hin zum letztendlichen Zusammenbruch unter dem Gewicht ihrer eigenen Gier.

In diesem Blogbeitrag beleuchten wir Doctorows Vortrag und die Kernbotschaften seiner Argumentation. Für alle, die heute viel investieren in relevante Plattformen, ist dies eine besonders spannende Analyse. Denn sie zeigt wie endlich diese Werkzeuge letztlich sind.

Was bedeutet „Enshittification“, wie funktioniert sie, und was können wir tun, um uns dagegen zu wehren?

Was ist Enshittification?

Doctorow beschreibt die Enshittification als einen dreistufigen Lebenszyklus, den praktisch alle zentralistischen, digitale Plattformen durchlaufen:

  1. Die benutzerzentrierte Phase
    Zu Beginn konzentrieren sich Plattformen darauf, ihren Nutzenden echten Mehrwert zu bieten. Dies ist die „goldene Ära“ der Plattform: Die Services sind kostenlos oder günstig, das Nutzungserlebnis ist reibungslos, und Nutzende fühlen sich ernstgenommen. Ziel ist es, so viele Nutzende wie möglich zu gewinnen, zu skalieren und viele Marktanteile zu sichern. Beispiele hierfür sind Facebook in seinen frühen Jahren, als es noch werbefrei war, oder Amazon, das einst mit Rabatten und kostenlosem Versand lockte.
  2. Die geschäftsorientierte Phase
    Sobald Plattformen eine kritische Masse an Nutzenden erreicht haben, verschiebt sich der Fokus auf Geschäftskunden. Jetzt werden Werbetreibende, Verkäufer oder Drittanbieter in den Vordergrund gerückt, während die Nutzenden und die von Ihnen generierten Inhalte und Daten zur Ware werden. Werbung nimmt immer mehr zu, Algorithmen bevorzugen gesponserte Inhalte, und die Qualität des Nutzererlebnisses beginnt zwangsläufig zu sinken.
  3. Die selbstzentrierte Phase
    In der Endphase beginnen Plattformen, sowohl Nutzende als auch Geschäftskunden auszubeuten, um maximale Profite zu erzielen. Die Nutzer werden mit Werbung überschwemmt, und die Plattform manipuliert ihre Interaktionen, um den Umsatz zu steigern. Gleichzeitig steigen die Kosten für Geschäftskunden, während deren Nutzen abnimmt. Ein Beispiel hierfür ist Amazon, das nicht nur Drittanbieter unter Druck setzt, sondern auch mit eigenen Produkten konkurriert. Aber auch auf Facebook ist dies schon lange sichtbar.

Am Ende führt diese kurzfristige Profitgier zum Niedergang und Verfall der Plattform.

Warum kommt es irgendwann zu Enshittification?

Doctorow argumentiert, dass Enshittification kein Zufall ist. Sie ist das Ergebnis bewusster Entscheidungen von Führungskräften und Anteilseignern, der hinter den Plattformen stehenden Organisationen. Sobald Plattformen groß genug sind, stehen sie unter Druck, immer höhere Gewinne zu erzielen – oft auf Kosten der langfristigen Nachhaltigkeit.

Die Mechanismen, die diesen Prozess antreiben, umfassen:

  • Monopolmacht: Plattformen streben die Kontrolle über ihren Markt an und lassen Nutzenden sowie Geschäftskunden kaum Alternativen. Sobald die Nutzenden wenig bis keine Möglichkeiten haben zu wechseln, können Plattformen die Qualität ohne Konsequenzen verschlechtern.
  • Datenextraktion: Plattformen nutzen umfassende Überwachung (oft auch über die eigene Plattform hinaus), um Benutzerdaten zu sammeln und zu monetarisieren – oft ohne die explizite Zustimmung der Nutzenden.
  • Algorithmische Manipulation: Algorithmen werden so gestaltet, dass sie Engagement maximieren (und damit Werbeeinnahmen), oft durch die Förderung polarisierender oder sensationsheischender Inhalte. Ein Phänomen, welches heute auch in anderen Kontexte immer mehr diskutiert wird.

Laut Doctorow ist Enshittification kein unausweichliches Schicksal, kein Naturgesetz, sondern das Ergebnis bewusster Entscheidungen. Trotzdem zeigt die Geschichte digitaler Plattform sehr deutlich diese Muster.

Beispiele für Enshittifizierung

Doctorow nennt in seinem Vortrag mehrere Beispiele, um den Prozess der Enshittifizierung zu verdeutlichen:

  • Facebook: Einst ein Ort für die Verbindung mit Freunden, ist Facebook heute eine werbeüberladene Plattform voller Desinformation und manipulativer Algorithmen. Der Fokus liegt auf Engagement-Metriken und Werbeeinnahmen, immer weniger Nutzende sind dort aktiv, viele sind abgewandert zu Instagram oder Linkedin.
  • Amazon: Was als benutzerfreundlicher Marktplatz begann, hat sich zu einem Raum entwickelt, in dem Drittanbieter unter hohen Gebühren leiden, während Amazon selbst die Konkurrenz durch eigene Produkte untergräbt.
  • X (ehemals Twitter): Vor den jüngsten Entwicklungen war Twitter bereits auf dem Weg der Enshittification, indem es bezahlte Inhalte und gesponserte Tweets priorisierte. Mit dem Kauf durch Elon Musk hat sich dieser Prozess nun nochmals auf einem anderen Niveau beschleunigt. Immer mehr Unternehmen und Marken verlassen die Plattform gerade.

Doctorow erweitert seine Analyse über die Tech-Welt hinaus und zeigt, wie ähnliche Dynamiken auch in anderen Branchen, wie dem Gesundheitswesen oder Einzelhandel, sichtbar werden. Das Prinzip ist nämlich keinesfalls nur auf Soziale Medien beschränkt.

Kann Enshittification gestoppt werden?

Doctorow zeigt sich vorsichtig optimistisch, dass Enshittification umkehrbar ist. Der erste Schritt ist das Erkennen der Muster. Sobald wir verstehen, wie Plattformen Nutzer und Geschäftskunden ausbeuten, können wir Rechenschaft einfordern und Veränderungen anstoßen. Zu seinen vorgeschlagenen Lösungsansätzen gehören:

  • Regulierung: Regierungen sollten Kartellgesetze durchsetzen, um Monopole zu zerschlagen und den Wettbewerb zu fördern.
  • Interoperabilität: Offene Standards und Protokolle könnten es Nutzenden ermöglichen, Plattformen zu wechseln, ohne ihre Daten oder sozialen Verbindungen zu verlieren (auch dies letztlich eine Forderung, die von der Regulierung kommen sollte.)
  • Kollektives Handeln: Nutzer und Arbeitnehmer können sich zusammenschließen, um bessere Praktiken zu fordern, sei es durch Boykotte, Gewerkschaften oder Aktivismus.

Die Implikationen

Doctorows Rede wirft eine zentrale Frage auf: Wie viel Kontrolle über unsere digitalen „Räume“ sind wir bereit abzugeben? Plattformen, die einst versprachen, uns zu verbinden und zu stärken, sind oft zu Werkzeugen der kommerziellen Ausbeutung, zum Ausgang von Fake News und Hate Speech geworden. Diese Entwicklung fordert uns Gesellschaft und Regierungen heraus, neue Wege zu finden, wie Technologie in unserer Gesellschaft wirken sollte.

Die Enshittification ist keine unaufhaltsame Entwicklung. Sie ist das Ergebnis von Entscheidungen – und kann durch andere Entscheidungen rückgängig gemacht werden. Indem wir diese Mechanismen verstehen und Veränderungen einfordern, können wir uns eine Zukunft vorstellen, in der Plattformen den Menschen dienen und nicht den Profiten.

Wer tiefer in Doctorows Gedanken eintauchen möchte, findet den vollständigen Text seines Vortrags auf Pluralistic. Ein absolutes Muss für alle, die sich mit dem Zustand des Internets heute einmal auf eine andere Weise auseinandersetzen wollen.

Letzte Änderung: November 20, 2024

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